Als die Pfarrer von Magdeburg im Jahr 1550 ihr Bekenntnis gegen das kaiserliche Interim ablegten, stand fĂĽr sie nicht eine politische Rebellion auf dem Spiel, sondern die Frage des christlichen Gewissens:
Wann endet der Gehorsam gegenĂĽber einer Obrigkeit, die sich gegen Gott selbst erhebt?
Paulus hatte in Römer 13 die Obrigkeit als „Dienerin Gottes“ bezeichnet. Doch was, wenn diese Dienerin untreu wird – wenn sie das Gute verfolgt und das Böse schützt?
Hier beginnt die Spannung, die das Magdeburger Bekenntnis mit einzigartiger Klarheit entfaltet.
Die Theologen der Stadt waren sich bewusst:
Nicht jede Ungerechtigkeit rechtfertigt Widerstand,
aber es gibt einen Punkt, an dem Schweigen Schuld wird und Gehorsam Verrat.
Um diese Grenze erkennbar zu machen, entwickelten sie – in der lateinischen Fassung ihres Bekenntnisses – eine bemerkenswerte Unterscheidung: die vier Grade der Tyrannei.
Diese Stufen beschreiben nicht vier Arten menschlicher Regierung,
sondern vier Zustände eines Machtmissbrauchs, der sich Schritt für Schritt von der göttlichen Ordnung entfernt.
Sie zeigen: Zwischen der geduldigen Ermahnung des noch fehlbaren Herrschers
und dem Widerstand gegen den Gottesfeind liegt ein Weg,
den das Gewissen sorgfältig prüfen und verantwortlich gehen muss.
Damit wurde Magdeburg zur Wiege einer neuen Denkweise:
Widerstand ist nicht Rebellion, sondern geordnete Verantwortung;
nicht Ausdruck menschlichen Stolzes, sondern Dienst am göttlichen Recht.
Die vier Stufen markieren also das ethische Thermometer politischer Macht:
Solange Unrecht menschlich bleibt, ist Geduld geboten.
Wenn aber Macht beginnt, Menschen zu zwingen, selbst gegen Gott zu handeln,
wird der Schutz des Guten zur Pflicht – und der Widerstand zum Gehorsam.
Theologische Linie
- Jede Obrigkeit hat ihr Mandat von Gott – aber nur „zum Guten“.
- Die Magdeburger verknĂĽpfen Gehorsam, Gewissen und Beruf:
Der Christ darf sich der Macht nicht widersetzen, solange er Gott nicht verleugnen mĂĽsste.
Aber er darf auch nicht tatenlos zusehen, wenn Gott selbst angegriffen wird. - Damit schaffen sie ein graduelles, verantwortungsorientiertes Modell – keine Revolutionstheorie, sondern eine Theologie des Maßes.
Bedeutung fĂĽr heute
Diese vier Stufen sind kein politisches Rezept, sondern ein moralischer Kompass.
Sie erinnern daran, dass jede MachtprĂĽfung bei der Frage beginnt:
Dient diese Autorität noch dem Guten – oder zwingt sie das Gewissen, Böses zu dulden?
Wer die Freiheit des Glaubens bewahren will, muss lernen, diese Linien zu erkennen.
Denn der Weg von der „nicht maßlos grausamen Obrigkeit“ zum „Verfolger Gottes“
ist kein Sprung, sondern ein Prozess –
und das Gewissen wird geprĂĽft in der Frage, wann Geduld zur Feigheit und Mut zur Treue wird.
Die vier Stufen der Tyrannei
nach dem Magdeburger Bekenntnis (lateinische Fassung 1550)
I. Tyrannus mitis – Der „nicht maßlos grausame“ Herrscher
„Omnes homines, etiamsi pii, habent ex infirmitate sua peccata et vitia…“
(Alle Menschen, selbst die Frommen, haben aus ihrer Schwäche heraus Sünden und Fehler.)
Ein solcher Herrscher begeht Verfehlungen,
die aus menschlicher Schwäche stammen,
nicht aus bewusster Feindschaft gegen Gott oder Recht.
Seine Fehler sind „nicht maßlos grausam“ (non immodice crudeles)
und heilbar durch Ermahnung und Geduld.
Die untergeordneten Amtsträger sollen ihn ermahnen,
aber das Unrecht geduldig ertragen,
wenn es ohne SĂĽnde ertragen werden kann.
Sie dürfen in solchen Fällen nicht zu den Waffen greifen.
đźź© Leitsatz:
Solche IrrtĂĽmer mĂĽssen in christlicher Geduld ertragen werden;
die Obrigkeit bleibt trotz ihrer Fehler Dienerin Gottes.
II. Tyrannus sine lege – Der gesetzlose Tyrann
„Cum princeps legem et ius suum in manifeste violat…“
(Wenn der Fürst das Recht und seinen Eid offenkundig bricht…)
Dieser Herrscher verletzt Recht und Eid,
nimmt Menschen Leben, Ehe, Eigentum oder Erbe,
und handelt gesetzlos (sine lege).
Die niederen Amtsträger sind nicht gezwungen,
solche gottlosen Befehle auszufĂĽhren;
dennoch ist es – wenn möglich – besser,
das Unrecht in Geduld zu ertragen,
sofern es nur Einzelne betrifft
und ohne eigene SĂĽnde ertragbar ist.
đźź© Leitsatz:
Ein solcher Tyrann ist zu tadeln,
aber man soll, wenn möglich,
geduldig tragen, ohne selbst zum Unrecht zu greifen.
III. Tyrannus cogens ad scelus – Der Zwangstyrann
„Quando vero magistratus inferior ad scelus compellitur…“
(Wenn die niedere Obrigkeit selbst zum Unrecht gezwungen wird…)
Hier steigt die Tyrannei auf eine neue Stufe.
Der FĂĽrst zwingt nun die Untergebenen,
selbst gegen Gott zu handeln –
etwa Unschuldige zu verfolgen oder falsche Lehre zu fördern.
Jetzt kann die niedere Obrigkeit nicht mehr untätig bleiben,
denn durch Schweigen oder Nachgeben wĂĽrde sie selbst mitschuldig.
Sie ist verpflichtet, den Schutz des Guten wahrzunehmen,
auch durch bewaffneten Widerstand,
wenn andere Wege versperrt sind.
đźź© Leitsatz:
Wenn Schweigen Schuld bedeutet,
wird Widerstand Pflicht.
IV. Tyrannus contra Deum – Der Verfolger Gottes
„Quando tyranni contra ipsum Deum bellum gerunt…“
(Wenn Tyrannen selbst gegen Gott Krieg führen…)
Das ist die höchste und letzte Stufe der Tyrannei.
Der FĂĽrst fĂĽhrt nun bewusst Krieg gegen Gott selbst,
nicht mehr nur gegen Menschen.
Er verfolgt die Kirche, zerstört das Evangelium,
und erhebt falsche Lehre zur Staatsreligion.
Ein solcher wird von den Magdeburgern genannt:
„Werwolf“ (lycanthropus) –
weil er sein menschliches Wesen abgelegt
und sich zum Werkzeug des Teufels gemacht hat.
In diesem Fall ist Widerstand nicht nur erlaubt, sondern geboten,
denn hier steht der Glaube selbst auf dem Spiel.
đźź© Leitsatz:
Wer Gott bekämpft, verliert jedes Mandat –
Gehorsam gegen ihn wäre Verrat an Christus.