1. Text und Übersetzung
Griechisch:
Hypomímnēske autous archais exousiais hypotásesthai, peitharchein, pros pan ergon agathon hetoímous eínai.
Wörtlich:
„Erinnere sie, sich Herrschern und Gewalten unterzuordnen, gehorsam zu sein, zu jedem guten Werk bereit zu sein.“¹
2. Kontext im Titusbrief
Der Titusbrief richtet sich an eine junge Gemeinde in Kreta (Tit 1,5). Ihr Ruf ist rau (1,12), die innere Ordnung im Aufbau (Älteste, 1,5–9), und falsche Lehrer destabilisieren das soziale Zeugnis (1,10–16). Die Abschnitte 2,1–10 und 3,1–2 bilden eine Doppelklammer: geordnetes, „schmückendes“ Verhalten nach innen (Haustafeln) und nach außen (Zivilordnung). Titus 3,1–2 ist somit die öffentliche Entsprechung zu 2,1–10: Die Gemeinde soll gesellschaftlich erkennbar gut handeln – nicht als Selbstzweck, sondern als missionarischer Schmuck des Evangeliums (vgl. 2,10; 2,14; 3,4–7).
Leitmotiv: „Gute Werke“ im Titusbrief sind öffentliche Sichtbarkeit der Gnade (2,14; 3,1.8.14). Sie sind Frucht (3,5–7), nicht Leistungsreligion.
3. Satzbau und Imperativfolge
Die Syntax bündelt drei Imperative/Infinitive der Paränese:
- hypotásesthai – „sich unterordnen“: Ordnungsbezug.
- peitharchein – „gehorchen“: Handlungsbezug.
- hetoímous eínai – „bereit sein“: Haltungsbezug („Disposition“).
Die Bewegung geht von Struktur (Unterordnung) über Konkretion (Gehorsam) zur Proaktivität („bereit zu jedem guten Werk“). Christliche Bürgerlichkeit ist damit nicht bloß reaktives Befolgen, sondern aktive Wohltätigkeit – ein positives öffentliches Gut.
4. Schlüsselbegriffe
a) „Herrscher und Gewalten“ (archais exousiais)
Die Doppelformel fasst staatliche Ebenen zusammen. Pluralität ist wichtig: Autorität ist dezentral, nicht monolithisch (vgl. 1Petr 2,14).² Damit liegt im Text die Idee begrenzter, delegierter Herrschaft – kein Absolutum, sondern Amt.
b) „sich unterordnen“ (hypotásesthai)
Der Ausdruck bezeichnet das Einordnen in eine gegebene Ordnung – nicht serviles Wegducken.³ Er ist relational, nicht absolut: Unterordnung bejaht Ordnung als solche, ohne jede konkrete Anordnung ipso facto zu sanktionieren.
c) „gehorchen“ (peitharchein)
Seltenes Verb, in der LXX/NT häufig im Kontext behördlicher Anordnungen. Bemerkenswert: In Apg 5,29 wird peitharchein in der Gegenformel gebraucht („Gott muss man gehorchen“).⁴ Das markiert die Grenze: Gehorsam ist geordnet, nicht schrankenlos.
d) „bereit zu jedem guten Werk“ (hetoímous… pan ergon agathon)
Der Höhepunkt. Christen sollen nicht nur nicht stören, sondern nützen. „Bereit“ meint eine ständige Verfügbarkeit: Initiative, Hilfsbereitschaft, Gemeinwohl – ohne Zwang, aus Gnade (3,4–7). Das korrigiert zwei Extreme: Quietismus (nur gehorchen, nie gestalten) und Revolte-Eifer (nur opponieren, nie dienen). Öffentliche Nützlichkeit ist Teil der christlichen Apologetik.
5. Theologische Linie
Titus 3,1 steht zwischen 2,11–14 (Gnade erzieht zu guter Praxis) und 3,4–7 (Gnade rettet und erneuert). Die Paränese ruht auf dem Evangelium: Weil Gott uns aus Barmherzigkeit erneuert hat (3,5), sollen wir bürgerlich gut sein (3,1–2.8). Das ist nicht Staatsvergöttlichung, sondern Gottesfurcht im öffentlichen Raum.
- Grund: Gottes Gnade schafft ein neues Volk „eifrig zu guten Werken“ (2,14).
- Form: geordnete Unterordnung und Gehorsam – ohne Anbiederung.
- Grenze: Wo Befehle Gottes Willen konterkarieren, gilt Apg 5,29.
- Ziel: Missio Dei durch sichtbares Gutestun (3,8.14).
6. Reformatorische Brücke (kompakt)
Reformatorische Stimmen lesen solche Stellen amtstheologisch: Obrigkeit ist Dienst am Guten, nicht Absolutum.⁵ Unterordnung ist „um Gottes willen“, nicht um der Macht willen (vgl. 1Petr 2,13–17). Daraus folgt: Legitime Autorität → Gehorsam; pervertierte Autorität (Lob des Bösen/Bestrafung des Guten) → Widerstandsrecht der Gewissen und – in der klassischen Lehre – Verantwortung gestufter Obrigkeiten.⁶
7. Anwendung (heute)
- Pro-aktiv: Christliche Bürger fragen zuerst: Wie kann ich nützen? – „bereit zu jedem guten Werk“ (Sozialkapital, Nachbarschaft, Berufsethos, Ehrenamt).
- Prinzipientreu: Unterordnung ist real, aber nicht total. Ein Ja zur Ordnung enthält ein Nein zur Vergöttlichung der Ordnung.
- Apologetisch: In polarisierter Öffentlichkeit gewinnt das Evangelium Glaubwürdigkeit durch sichtbares Gutestun, nicht durch Parteiflaggen.
Definition:
Unterordnung = freiwillige Einordnung in rechtmäßige Ordnung mit evangelischer Motivlage; Gehorsam = Befolgung rechtmäßiger Weisungen innerhalb dieser Ordnung; Bereitschaft = proaktive Orientierung am Gemeinwohl als Frucht der Gnade.
Endnoten
- Eigene Übers.; Text nach NA28.
- Vgl. zur gestuften Obrigkeit 1Petr 2,13–17; zur römischen Verwaltung: Karen H. Jobes, 1 Peter, BECNT (Grand Rapids 2005), 176–181.
- Zu hypotássesthai s. BDAG 1042; Louw/Nida 36.18 („sich in eine Ordnung einreihen“).
- Zu peitharchein vgl. Apg 5,29; 27,21; lexikalisch BDAG 793.
- Heinrich Bullinger, Von der Obrigkeit (1568), bes. Pred. 16 (Amt, nicht Absolutum).
- Confessio Magdeburgensis (1550), cap. 2 (Verantwortung niederer Obrigkeiten).