Nach Matthew J. Trewhella – Pflicht statt blinder Loyalität
1. Die vergessene Tugend der Pflicht
Trewhella beginnt mit einem Wort, das in modernen Demokratien kaum noch Gewicht hat: Pflicht.
Er stellt fest, dass Zweckmäßigkeit und Karriereinteresse den Platz jener moralischen Verbindlichkeit eingenommen haben, die einst das Rückgrat öffentlicher Verantwortung bildete.
Pflicht heißt: etwas tun, weil es richtig ist, nicht weil es bequem ist.
In diesem Sinn ist der niedere Magistrat – also jeder öffentliche Amtsträger, der unter einer höheren Instanz steht – nicht bloß Vollstrecker, sondern Hüter.
Er trägt Verantwortung vor Gott, nicht allein vor seiner Vorgesetztenkette.
2. Wer ist ein „niederer Magistrat“?
Ein „Magistrat“ ist bei Trewhella jeder, der öffentliche Autorität ausübt:
Richter, Polizist, Bürgermeister, Gouverneur, Beamter, Soldat.
Der „niedere Magistrat“ ist derjenige, der eine begrenzte, lokale oder zweitrangige Autorität besitzt – er steht unter einem höheren Amt, trägt aber reale Verantwortung über Menschen und Recht.
Die niederen Magistrate sind das Rückgrat der Freiheit.
Sie stehen zwischen dem Volk und der Zentralmacht – und sind berufen, Unrecht zu bremsen, bevor es zur Tyrannei wird.
3. Drei Grundpflichten der niederen Obrigkeit
Nach Trewhella lässt sich die Verantwortung dieser Amtsträger in drei Hauptpflichten zusammenfassen:
- Widerstehen
– gegen Gesetze, Erlasse oder Anordnungen, die dem Gesetz Gottes oder der Verfassung widersprechen. - Schützen
– das Leben, die Freiheit und das Eigentum der Menschen in ihrem Zuständigkeitsbereich vor willkürlichen Eingriffen höherer Autoritäten. - Verweigern
– unrechtmäßige Befehle nicht ausführen und – falls nötig – deren Umsetzung verhindern.
Diese drei Punkte bilden die Essenz der reformatorischen Widerstandslehre:
Pflicht ist nicht Ungehorsam, sondern treuer Gehorsam gegenüber der höheren Ordnung Gottes.
„Sie können sich nicht hinter der Ausrede ‚Ich befolge nur Befehle‘ verstecken.
Ihre Pflicht ist es, das Richtige zu tun – auch gegen den Strom der Macht.“
(Trewhella)
4. Warum diese Pflicht heilig ist
Trewhella bezeichnet sie als heilig, weil sie in der Heiligen Schrift verwurzelt ist.
Autorität stammt von Gott (Röm 13), doch sie bleibt nur legitim, solange sie dem göttlichen Zweck dient – Schutz des Guten, Bestrafung des Bösen.
Wenn eine Regierung beginnt, das Gegenteil zu tun,
dann wird Widerstand nicht nur erlaubt, sondern zur Pflicht.
Ein Magistrat, der an Unrecht mitwirkt, „nimmt Teil an der Rebellion der höheren Obrigkeit gegen Gott“.
Damit greift Trewhella exakt das auf, was die Magdeburger 1550 lehrten:
Die Obrigkeit verliert ihre göttliche Legitimation, sobald sie Gottes Gebot verletzt.
5. Der Verlust der Zwischeninstanzen
Unter Bezug auf den Historiker Herbert Schlossberg (Idols for Destruction, 1983) beschreibt Trewhella, wie moderne Staaten die Zwischeninstanzen – Länder, Städte, Gemeinden – entmachtet haben.
Was früher Bollwerke der Freiheit waren, sind heute Verlängerungsarme der Zentralgewalt.
„Mit den Schekeln kommen die Fesseln.“
(Trewhella)
Das bedeutet:
Finanzielle Abhängigkeit ersetzt geistliche Verantwortung.
Die unteren Behörden folgen lieber den Anordnungen von oben, als ihre verfassungsmäßige Schutzfunktion wahrzunehmen.
So erstickt der Staat die lokale Selbstverantwortung – das Gegenteil dessen, was die Magdeburger als göttliche Ordnung sahen.
6. Die moralische Grenze des Gehorsams
Trewhella betont, dass echter Gehorsam immer begrenzt ist.
Ein Christ kann staatlicher Gewalt nur insoweit folgen, wie sie Gott nicht widerspricht.
Wenn eine Regierung das Böse befiehlt oder das Gute verbietet,
verwandelt sich Pflicht in Verrat –
und der niederer Magistrat muss „interponieren“, also zwischen Gott und Volk eintreten.
Er zitiert den mittelalterlichen Denker Johannes von Salisbury, der bereits im Policraticus schrieb:
„Treue Schultern sollen die Macht des Herrschers tragen,
solange sie Gott dient.
Wendet sie sich gegen Gott,
dann gehorche ich Gott mehr als den Menschen.“
7. Warum Widerstand der niederen Obrigkeit klüger ist als Aufstand
Trewhella warnt ausdrücklich vor Volksaufständen.
Ungeordnete Rebellion führt in Chaos und Blutvergießen.
Doch der Widerstand der niederen Obrigkeit hat eine andere Qualität:
Er ist geordnet, rechtmäßig und verantwortlich.
Er nennt neun Gründe, warum gerade diese Form des Widerstands klug und wirksam ist:
- Niedere Magistrate haben rechtmäßige Autorität – Gott steht hinter ihrem Amt.
- Sie verfügen über Unterstützung des Volkes.
- Sie handeln auf gesetzlicher Grundlage (Verfassung, Amtseid).
- Sie haben Zugang zur Öffentlichkeit und können Missstände benennen.
- Sie sprechen das Gewissen der Bevölkerung an.
- Sie gewähren Schutz und Zuflucht für Bedrängte.
- Sie stellen Unterdrücker bloß und machen Unrecht sichtbar.
- Sie können ohne Blutvergießen für Recht sorgen.
- Sie stehen unter göttlichem Beistand, wenn sie gerecht handeln.
Trewhella fasst es so:
„Gott selbst unterstützt jene Obrigkeiten, die ihrem Auftrag treu bleiben.
Sie sind das Werkzeug der Befreiung gegen Unterdrückung und Böses.“
8. Der innere Kern der Lehre
Die Doctrine of the Lesser Magistrates ist kein Aufruf zur Revolution,
sondern ein Ruf zur moralischen Verantwortung in Amt und Beruf.
Trewhella spricht von einer „heiligen Pflicht zur Interposition“ –
dem aktiven Dazwischentreten,
wenn höhere Gewalt Gott und Recht verletzt.
Das Ziel ist nicht Macht, sondern Schutz.
Nicht Aufruhr, sondern Treue gegenüber der Ordnung Gottes.
In dieser Haltung begegnet sich reformatorische Theologie und freiheitliche Gesellschaftslehre:
Autorität wird nicht aufgehoben, sondern gereinigt.
Pflicht ersetzt Opportunismus.
Verantwortung ersetzt Angst.
9. Fazit
Die Lehre vom niederen Magistrat nach Matthew J. Trewhella
ist eine zeitgemäße Auslegung der Magdeburger Prinzipien von 1550.
Sie ruft alle Berufenen, die Macht ausüben, zu dieser einfachen Wahrheit zurück:
Gehorsam endet, wo Schuld beginnt.
Widerstand des Berufenen ist kein Aufruhr – sondern Gehorsam gegenüber Gott.
In einer Zeit, in der Pflicht dem Pragmatismus gewichen ist,
erinnert sie daran, dass Freiheit niemals aus Bequemlichkeit entsteht,
sondern aus Mut, Verantwortung und Glauben.
📖 Quellenhinweis
Trewhella, Matthew J.: The Doctrine of the Lesser Magistrates. A Proper Resistance to Tyranny and a Repudiation of Unlimited Obedience to Civil Government.
North Charleston, SC: CreateSpace, 2013.
(Online-Ausgabe: Scribd / ISBN 978-1-4903-2882-1)