Warum die Lehre von der Freiheit ihren Ursprung im biblischen Denken hat
„Christlicher Glaube und libertäre Philosophie sind zwei Sprachen, die dieselbe Wahrheit ausdrücken.“
Ein vergessener Zusammenhang
Wenn heute von Freiheit, Eigentum und Selbstbestimmung die Rede ist, fällt fast immer auch der Name John Locke. Seine Second Treatise of Government (1689) gilt als Gründungsdokument des Liberalismus. Doch selten wird erkannt, dass Lockes Ideen nicht im luftleeren Raum entstanden. Sie wuchsen aus einem geistigen Boden, der durch die Reformation bereitet worden war – durch Männer wie Calvin, Beza, die Verfasser der „Vindiciae contra Tyrannos“ und Samuel Rutherford.
Zwischen dem Magdeburger Bekenntnis (1550) und Lockes Treatise liegt ein roter Faden: die Überzeugung, dass Autorität niemals absolut ist.
Der Herrscher steht unter dem Gesetz, nicht über ihm. Das Volk ist kein Besitz des Regenten, sondern Träger einer göttlich gesetzten Verantwortung.
Dieses Denken ist nicht humanistischer Aufbruch, sondern biblische Rückkehr – zurück zur Wahrheit, dass Gott allein Herr des Gewissens ist.
Damit wird deutlich: Die abendländische Freiheit ist nicht gegen, sondern aus dem Christentum gewachsen. Ihre Wurzeln liegen in der Bibel – in der Einsicht, dass kein Mensch göttliche Macht über den anderen besitzt. Wo das Evangelium ernst genommen wurde, begann sich auch die politische Freiheit zu entfalten.
Von Magdeburg bis Westminster – die Geburt des begrenzten Staates
Als 1550 in Magdeburg evangelische Pfarrer dem Kaiser den Gehorsam verweigerten, weil er das Evangelium unterdrückte, schufen sie das erste protestantische Widerstandsbekenntnis. Ihre Begründung war nicht revolutionär, sondern seelsorgerlich:
„Wenn die Obrigkeit Gottes Gebot übertritt, ist Gehorsam Ungehorsam gegen Gott.“
Diese Logik prägte den reformierten Raum für Jahrhunderte. Beza formulierte sie 1574 in Du droit des magistrats neu, Brutus (wahrscheinlich Philippe du Plessis-Mornay) systematisierte sie 1579 in den Vindiciae contra Tyrannos, und Rutherford brachte sie 1644 in Lex, Rex auf den Punkt:
„Das Gesetz ist König, nicht der König das Gesetz.“
Diese Lehre begrenzter, rechenschaftspflichtiger Obrigkeit war mehr als politische Theorie. Sie war ein Glaubensbekenntnis in Staatsform.
Denn wer Christus als Herrn bekennt, kann keinem irdischen Herrn absolute Macht zugestehen.
Damit legte die Reformation – oft unbemerkt – den Grundstein dessen, was später als „westliche Freiheit“ bezeichnet wird. Die Vorstellung von individuellen Rechten, von rechtlich gebändigter Macht und freiem Gewissen ist nicht Produkt der Aufklärung, sondern Frucht der Reformation.
Locke als Übersetzer – vom Bundesdenken zum Naturrecht
Locke tritt erst ein halbes Jahrhundert später auf – und er tut etwas Geniales: Er übersetzt die Theologie der Reformation in die Sprache der Vernunft.
Er ersetzt das Wort „Bund“ (covenant) durch „Vertrag“ (contract), aber der Gedanke bleibt:
Herrschaft ist Treuhand, kein Besitz.
Macht ist ĂĽbertragene Pflicht, kein natĂĽrliches Recht.
In seinem Second Treatise beschreibt Locke eine Ordnung, die dem reformatorischen Denken erstaunlich nahekommt:
- Die Menschen sind von Natur frei und gleich.
- Sie bilden Regierungen nur, um ihre Rechte zu schĂĽtzen.
- Wird diese Treuhand gebrochen, fällt die Autorität an das Volk zurück.
Das ist, in säkularer Sprache, nichts anderes als das Prinzip von Magdeburg und Lex, Rex:
Wenn die Obrigkeit ihre göttliche Ordnung verkehrt, besteht nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht zum Widerstand – um die Ordnung wiederherzustellen, nicht sie zu zerstören.
Das göttliche Eigentum des Menschen
Lockes berĂĽhmtestes Kapitel ist das fĂĽnfte: Of Property. Dort schreibt er:
„Every man has a property in his own person.“
(Jeder Mensch besitzt Eigentum an seiner eigenen Person.)
Diese Aussage ist theologisch gesättigt. Sie beruht auf der biblischen Wahrheit, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist.
Weil Gott der Schöpfer ist, ist der Mensch Verwalter – seines Lebens, seiner Arbeit, seiner Güter.
Locke entwirft daraus ein System natĂĽrlicher Rechte, die nicht vom Staat verliehen, sondern von Gott vorgegeben sind.
Der Staat existiert nur, um diese Rechte zu schĂĽtzen, nicht um sie zu schaffen.
Hier trifft sich Lockes Philosophie mit dem libertären Grundsatz:
Keine menschliche Institution hat das Recht, über den Körper, das Eigentum oder das Gewissen des Menschen zu verfügen.
Wer das Eigentum schützt, schützt den Menschen – denn beides ist untrennbar.
Und wer den Menschen als Geschöpf Gottes versteht, erkennt im Eigentum nicht Gier, sondern Verantwortung.
Das Prinzip der begrenzten Gewalt
Während Rutherford den König an die göttliche Ordnung bindet, bindet Locke die Regierung an das Naturgesetz der Vernunft.
Beide sagen im Kern dasselbe:
- Es gibt ein Recht ĂĽber dem Regenten.
- Es gibt eine Pflicht zur Treue gegenĂĽber diesem Recht.
- Und es gibt eine Schwelle, an der Macht zur Tyrannei wird.
Locke nennt diese Schwelle den „dissolution of government“ – den Punkt, an dem eine Regierung aufhört, Regierung zu sein, weil sie die Rechte der Bürger zerstört.
Rutherford nannte es die „Pflicht der niederen Obrigkeit“; Locke nennt es das „Recht des Volkes“.
Beide sind Ausdruck desselben Gedankens:
Macht ist legitim nur, solange sie Recht schĂĽtzt.
Diese Erkenntnis – dass Freiheit nur dort bestehen kann, wo Macht begrenzt ist – wurde zum Markenzeichen der abendländischen Zivilisation.
Sie wurzelt im Glauben an einen Gott, der selbst Recht und Maß ist, und sie wächst dort, wo Menschen begreifen: Kein Mensch ist Gott.
Vom Glauben zur Freiheit – eine doppelte Sprache derselben Wahrheit
Was Locke vollbringt, ist mehr als ein philosophischer Schritt. Es ist ein sprachlicher BrĂĽckenschlag:
Er ĂĽbersetzt das reformatorische Freiheitsdenken aus der Sprache des Glaubens in die Sprache der Vernunft.
Er säkularisiert nicht – er universalisiert.
Er öffnet das, was zuvor im Raum der Kirche gedacht war, für die Welt der Politik.
Deshalb kann man sagen:
Der Libertarismus ist die politische Grammatik des biblischen Menschenbildes.
Wo die Reformation sagte: „Christus allein ist Herr des Gewissens“,
sagt der Libertarismus: „Kein Mensch hat natürliche Herrschaft über einen anderen.“
Beides meint dasselbe:
Freiheit ist nicht WillkĂĽr, sondern Ordnung unter Gott.
Locke und die geistige Erbschaft der Reformation
Ob Locke Lex, Rex kannte, ist nicht eindeutig belegt.
Aber seine Argumente sind so strukturell ähnlich, dass man von einer geistigen Verwandtschaft sprechen muss.
Beide Werke sind Glieder derselben Kette:
von Magdeburg ĂĽber Genf und Edinburgh bis nach London.
Sie alle stehen gegen den Absolutismus und fĂĽr die Bindung der Macht an das ĂĽbergeordnete Recht.
Diese Linie erklärt, warum die modernen Freiheitsrechte – Rede-, Gewissens-, Eigentumsfreiheit – nicht gegen, sondern aus dem Christentum hervorgingen.
Sie sind die weltliche Frucht einer geistlichen Wahrheit:
Gott allein ist souverän – darum darf kein Mensch es sein.
Die abendländische Freiheit ist daher keine zufällige Laune der Geschichte.
Sie ist das Ergebnis von Jahrhunderten, in denen das Evangelium Menschen lehrte, Verantwortung statt Unterwerfung zu leben.
Wo der Glaube an den Schöpfer ernst genommen wurde, entstand Raum für Freiheit, Eigentum und Recht.
Wo er aufgegeben wurde, folgten Zwang, Ideologie und Kollektivismus.
Zwei Sprachen, eine Wahrheit
Was die Reformatoren als Theologen dachten, formulierte Locke als Philosoph.
Beide redeten über dasselbe Reich – das eine im Himmel, das andere auf Erden – und doch mit derselben Grammatik:
- Glaube an Gott → Ursprung der Würde.
- Freiheit des Gewissens → Grenze der Macht.
- Eigentum und Arbeit → Ausdruck göttlicher Schöpfungsordnung.
- Recht über Herrschaft → Schutz vor Götzendienst in politischer Gestalt.
Darum gehören Christentum und Libertarismus zusammen:
Der eine gibt der Freiheit Sinn, der andere Form.
Der eine zeigt, woher die Freiheit kommt, der andere, wie sie bleibt.
Schlussgedanke
John Locke steht an der Schwelle zwischen Bibel und Moderne.
Er ist kein Ersatz für die Reformation, sondern ihr Nachklang – das Echo eines biblischen Weltbildes in der Sprache der Aufklärung.
Wer heute Freiheit verteidigt, steht in seiner Spur – und zugleich in der Spur der Magdeburger, der Hugenotten und der schottischen Covenanter.
Freiheit ist kein Zufall der Geschichte.
Sie ist die irdische Gestalt eines himmlischen Prinzips:
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“
(Galater 5,1)
Empfohlene Quellen
Francis Schaeffer: A Christian Manifesto (1981) – zur Wiederentdeckung der biblischen Grundlage politischer Freiheit.
Samuel Rutherford: Lex, Rex (1644) – Constitution Society Edition, 2002.
Philippe du Plessis-Mornay (Junius Brutus): Vindiciae contra Tyrannos (1579).
Théodore de Bèze: Du droit des magistrats (1574).
John Locke: Two Treatises of Government (1689), besonders Kap. V und XIX.
Paul J. Richards: Law Written in Their Hearts: Rutherford and Locke on Nature, Government, and Resistance, Journal of Law and Religion, Cambridge 2021.