Grenzen der Vergebung

Gnade, Gericht und Freiheit – ein biblischer Realismus

Es ist verständlich, wenn Menschen nach einer Tragödie Trost suchen. Wenn eine Witwe sagt, sie vergebe dem Mörder ihres Mannes, bewegt das viele Herzen. Und doch muss man fragen: Ist das wirklich Vergebung im biblischen Sinn – oder nur die Flucht vor dem Schmerz, getarnt als Frömmigkeit? Das Evangelium spricht nicht von pauschaler Entlastung, sondern von Buße, Gerechtigkeit und Wiederherstellung. Es unterscheidet zwischen persönlicher Feindesliebe und öffentlicher Ordnung. Diese Unterscheidung ist kein theologisches Detail, sondern eine tragende Säule jeder freien Gesellschaft.

Die Ordnung des Lebens

Die Bibel setzt früh einen Rahmen, der Freiheit überhaupt erst möglich macht. „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden“ (1. Mose 9,6). Das ist kein Aufruf zur Selbstjustiz, sondern zur Ordnung: Schuld soll geahndet werden – nicht aus Hass, sondern aus Recht. Das Tallionsprinzip – „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – war nie die Lizenz zur Rache, sondern ihre Begrenzung. Es war Gottes erste Revolution gegen das Maßlose. Damit sagte Gott: Schluss mit der Spirale des Hasses. Die Strafe soll der Schuld entsprechen, nicht der Wut. So entsteht Recht. Und Recht ist nichts anderes als gebändigter Zorn – Gottes Zorn in gerechter Form, menschlich vermittelt, durch Maß und Verantwortlichkeit gezügelt. Wer dieses Prinzip verachtet, weil es „zu streng“ klingt, hat nicht verstanden, dass es die Wurzel der Freiheit ist. Ohne Recht bleibt nur Rache, und Rache zerstört nicht nur den Täter, sondern auch das Opfer.

Die Unterscheidung, die alles trägt

Feindesliebe ist ein persönlicher Auftrag – keine politische Strategie. Sie meint: keinen Hass pflegen, keine Rache suchen, keinen Zorn zur Lebenshaltung machen. Aber sie bedeutet nicht, dass der Täter gesegnet wird, während er flieht. Die Bibel erlaubt das Gebet um Gericht. Sie kennt die Rachepsalmen, in denen Gläubige Gott bitten, das Böse zu richten. Das ist kein dunkler Rest des Alten Testaments, sondern gelebter Glaube: „Wie lange, Herr, richtest du nicht?“ (Offb 6,10). Wer Gerechtigkeit will, bittet um Gericht – nicht um Straflosigkeit. Römer 12 sagt: „Die Rache ist mein, spricht der Herr“ – das heißt: keine Selbstjustiz. Aber gleich danach folgt Römer 13: Die Obrigkeit trägt das Schwert „nicht umsonst“. Sie ist Gottes Werkzeug, nicht sein Ersatz. Das ist der Punkt, an dem christliche Ethik und libertäre Ordnung zusammentreffen: Gerechtigkeit ist keine Privatangelegenheit, sondern eine Verantwortung der Gemeinschaft. Doch sie darf nur innerhalb der Grenzen des Rechts wirken – nicht durch emotionale Überbietung oder moralische Schau.

Wenn Gnade sich selbst zerstört

Das heutige Christentum will oft gnädiger sein als Christus selbst. Man redet von Liebe, wo Gott von Wahrheit spricht. Man redet von Vergebung, wo keine Buße geschieht. Jesus hat am Kreuz nicht gesagt: „Ich vergebe euch.“ Er sagte: „Vater, vergib ihnen.“ Das war Fürbitte – nicht Amnestie. Die eigentliche Vergebung geschah später, als jene, die einst „kreuzige ihn“ schrien, unter der Predigt trafen und Buße taten (Apg 2,37). Das ist der biblische Weg: zuerst Wahrheit, dann Gericht, dann Gnade. Wer die Reihenfolge umkehrt, verliert alle drei. Vergebung ohne Buße ist wie Freispruch ohne Wahrheit – sie korrumpiert das Gute. Es ist nicht „gnädig“, einem unbußfertigen Mörder zu vergeben. Es ist Überheblichkeit, als könne man barmherziger sein als Gott selbst.

Die Verantwortung des Staates – und ihre Grenze

Gott hat die Obrigkeit eingesetzt, damit sie das Böse bestraft – nicht, um es zu verwalten. Das Schwert des Staates ist kein Zeichen von Willkür, sondern von Verantwortung. Wo Strafe verschwindet, wächst nicht Milde, sondern Macht. Hier berührt sich Theologie mit libertärer Einsicht: Eine Gesellschaft, die Schuld nicht mehr bestraft, sondern „versteht“, ruft am Ende den Leviathan hervor. Denn wenn niemand mehr Schuld trägt, muss irgendjemand sie kollektiv übernehmen – der Staat. Und der Staat wird sich diese moralische Rolle nicht entgehen lassen. So verwandelt sich falsche Gnade in politische Knechtschaft. Man vergibt nicht mehr aus Freiheit, sondern aus Ideologie. Der Einzelne verliert die Verantwortung, weil die Gemeinschaft sie durch Sentimentalität ersetzt hat.

Was wirkliche Vergebung ist

Echte Vergebung ist nie billig. Sie kostet Blut – das Blut des Gerechten. Darum ist das Kreuz kein Symbol der Beliebigkeit, sondern der Wahrheit. Christus hat das Gesetz nicht aufgehoben, sondern erfüllt. Und er hat gezeigt: Nur wer Schuld anerkennt, kann frei werden. Buße ist kein moralischer Preis, sondern die Tür zur Gnade. Wer sie überspringt, findet nicht Vergebung, sondern Selbsttäuschung.

Freiheit durch Recht, Gnade durch Wahrheit

Ein libertärer Christ weiß: Ohne Verantwortung keine Freiheit – ohne Wahrheit keine Gnade. Darum darf niemand Vergebung zur Flucht vor Gerechtigkeit machen. Wer wirklich frei sein will, muss anerkennen, dass jede Schuld ein Maß verlangt. Der Mörder braucht keine „Veredelung“, sondern Gericht. Das Opfer braucht Trost – und die Gewissheit, dass das Böse nicht triumphiert. Und die Gesellschaft braucht Klarheit: Barmherzigkeit ist kein Ersatz für Wahrheit. Wir dürfen beten, dass der Täter umkehrt. Aber solange er im Bösen verharrt, dürfen wir beten, dass Gott richtet. Denn Gericht ist kein Gegensatz zur Liebe – es ist ihr Beweis.

Schluss

Die Bibel kennt keine Gnade ohne Wahrheit. Sie kennt keine Vergebung ohne Buße, keine Liebe ohne Recht. Darum gilt: Wir beten für Umkehr, wir verweigern Hass, aber wir beugen uns nicht vor falscher Gnade. Denn Gott ist barmherzig – aber niemals gleichgültig.

Autor

  • Schnebel Andreas

    Andreas Schnebel ist pensionierter Soldat, Autor und Publizist. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Magazine, darunter eigentümlich frei, Der Sandwirt, wir selbst und Ansage.org. Seine Schwerpunkte liegen in der Verbindung reformatorischer Theologie mit Fragen der Freiheit, Eigentumsordnung und Gesellschaftskritik. Schnebel ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

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