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Sozialstaat – oder ein freier Markt für die Bedürftigenhilfe?

Die bloße Ablehnung des Sozialstaates ändert nichts an den bestehenden Verhältnissen. Alternativen müssen aufgezeigt werden, alte oder neue. Prof. Dr. Philipp Bagus schlägt in seinem Vortrag einen Bogen, ausgehend von der historischen Entwicklung freiwilliger Bedürftigenhilfe, über die verschiedenen Formen der Absicherung, deren Vorteile und den drastischen Nachteilen und Folgen staatlicher Zwangswohlfahrt.

Formen der Absicherung

  • private Ersparnisse
  • Versicherungen -> monetäre Entschädigung, genau definierte Schadensfällen, finanzielle Gewinnmaximierung
  • Familie -> Umverteilung auf Grund von Liebe und Zuneigung
  • Selbsthilfeorganisationen -> Gegenseitigkeit, Solidarprinzip, Ermessensspielräume, horizontale, demokratische Struktur, nicht nur monetäre, auch psychologische/spirituelle Hilfe, „Metaversicherung“
  • Wohltätigkeitsvereine -> Hilfsbedürftige kommen als Bittsteller, Abhängigkeit, „ultima ratio“, entweder direkt oder durch Organisationen (Kirche etc.) 
  • allg. Nächstenhilfe -> Grundkonstante der menschl. Natur,  evolutionär oder christlich begründet, außer Psychopathen, bereits die Frage, was wäre denn ohne Sozialstaat, zeigt, dass dies ein Grundmotiv, ein menschliches Bedürfnis ist, das im Markt nachgefragt und angeboten wird

Vorteile

  • nur wirklich Hilfsbedürftige bekommen Hilfe (England: deserving & undeserving poor),
  • individuelle, auf Person und Situation zugeschnittene Hilfe, Kompromisse bei Grauzonen mit Auflagen/Bedingungen möglich
  • Konzentration der Hilfe, keine parasitären Abhängigkeitsbeziehungen
  • Hilfe zur Selbsthilfe, beiderseitiges Interesse an Wiedererlangung der Selbstständigkeit, Selbstachtung,
  • Steigerung des gesellschaftlichen Mitgefühls, der Mildtätigkeit
  • Mitwirkung der Mehrheit in freiwilligen sozialen Netzen, echte Solidarität
  • Förderung allgemeiner Moral durch freiwillige ethisch-moralische Standards (historisch belegte Regeln, wie eheliche Treue, gute Elternschaft, Ehrung der Eltern etc. von Selbsthilfegruppen), Charakter und Reputation,  Anreiz für ehrgeiziges Verhalten
  • Hilfsbedürftige sind keine anonymen Empfänger,
  • Haben ein erworbenes, auch moralisches Anrecht auf Hilfe und Unterstützung
  • Hilfsbedürftige nicht nur Opfer der Umstände, werden ganzheitlicher betrachtet mit dem Ziel der Unabhängigkeit
  • Hilfe mal materieller, finanzieller, manchmal aber auch nur immaterieller Natur (Ratschläge, Verbindungen knüpfen, Trost etc.)
  • Kontrolle und Selbstverwaltung, insbesondere über die Finanzen, geringe Kosten
  • Wettbewerb zwischen den Selbsthilfeorganisationen führt zu Flexibilität und Effizienz (am Markt wird entdeckt, was die beste, effektivste Form der Hilfe ist)

Geschichte der Bedürftigenhilfe

Mythos: „Der schutzlose Arbeiter“
Fakt 1: Lebensstandart & Absicherung geringer, weil Menschen grundsätzlich ärmer waren aber grundsätzlich gewährleistet.
Fakt 2: Bereits im Mittelalter gab es Selbsthilfeorganisationen

  • Bruderschaften (Krankheit, andere Notfälle, gründeten Krankenhäuser, zahlten Beerdigungen, vermittelten bei Rechtsstreitigkeiten, gründeten Schulen usw.)
  • In Deutschland die Zünfte, soziale und ökonomische Zusammenschlüsse mit gegenseitiger Hilfe, Krankenhäuser, Nothilfe, Altersversorgung
  • Gilden, Genossenschaften bzw. selbstnützige Zusammenschlüsse von von Kaufleuten/Händlern
  • Später dann Knappschaftskassen bei den Bergleuten, Krankenkassen, Witwen-, Sterbe, Waisenkassen. Krankenhäuser etc. aber stets auf der Basis der Gegenseitigkeit! „Date et dabitur“ = „Gebe und dir wird gegeben“, Schiffergesellschaften und sogar Sklavenkassen.
  • Im 19. Jahrh. Freie Gewerkvereine, das Genossenschaftswesen mit sozialer Absicherung auf Basis solidarischer Selbsthilfe

Fakt 3: Bereits vor dem Wohlfahrtsstaat gab es Wohlfahrt

  • durch Kirchen, Adlige, Kaufleute und Händler

Mythos: „Vor dem Wohlfahrtsstaat gab es keine Bedürftigenhilfe“

  • Vor Einführung der Zwangsmitgliedschaften und der bismarckschen Sozialgesetzgebung, war bereits die Mehrheit auf die eine oder andere Art freiwillig abgesichert.
  • Arbeiter und Gewerkschaften waren mehrheitlich gegen das staatliche Sozialsystem, weil sie wussten, dass dieses die freiwillige, Selbsthilfeorganisation zerstören, ihnen die Kontrolle und Selbstverwaltung nehmen wird
  • Die Einführung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates war politisch und ideologisch von Paternalismus und sozialer Kontrolle motiviert: Erstens die sozialen Unruhen und dem Sozialismus die Stirn bieten, zweitens den bestehenden die wirtschaftliche Grundlage entziehen und drittens die Arbeiter an den Staat binden. „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ (Quelle: Otto von Bismarck: Gesammelte Werke; Friedrichsruher Ausgabe, 1924/1935, Band 9, S.195/196). Bismarck vertrat zu Beginn der siebziger Jahre staatssozialistische Gedanken. Die Arbeiterversicherung sollte durch staatliche Einnahmen finanziert werden „Der Staat muss die Sache in die Hand nehmen, „erklärte der Reichskanzler. „Der Staatssozialismus paukt sich durch. Jeder, der diesen Gedanken aufnimmt, wird ans Ruder kommen.“
  • Der Sozialstaat sollte ein autoritärer Fürsorgestaat sein, der den Arbeitern das Gefühl vermitteln sollte, das Gemeinwesen kümmere sich um sie. „Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln als wer darauf keine Aussicht hat. Sehen Sie den Unterschied zwischen einem Privatdiener und einem Hofbedienten an; der letztere wird sich weit mehr bieten lassen; denn er hat Pensionen zu erwarten.“ (Bismarck zu Moritz Busch.)
  • der Staat verdrängte die private Selbsthilfeorganisationen und zertrennte damit die natürlich gewachsenen Bänder des gegenseitigen Vertrauens und Hilfeleistung und setzt an deren Stelle eine gigantische, kalte und gefühllose Umverteilungsmaschinerie. Die es den einen anonym aus der Tasche zieht und den anderen willkürlich anonym in die Tasche steckt
  • Staatsfürsorge ist keine Selbsthilfe, kein Recht auf Hilfe unter Gleichen, kein freiwillig erworbenes Anrecht, auch keine mildtätige Hilfe eines Spenders, sondern ein “soziales Recht”, eine erzwungene “soziale Verpflichtung”.

Konsequenzen staatlicher Wohlfahrt

  1. immer mehr Bedürftige und Situationen, die Sozialhilfe nötig machen und als “Rechte” verkauft werden (Finnland: Recht auf Internet, diese Rechte wuchern inflationär
  2. Kontrollmechanismen von Hilfeleistung werden ausgesetzt, entpersonalisiert, objektiviert und automatisiert. Notwendige Hilfe von nicht notwendiger Hilfe wird nicht mehr unterschieden. Einforderung individueller Hilfe, zugeschnitten auf den persönlichen Fall gibt es nicht, dafür pauschale Regeln, Vorschriften und Gesetze. Der Staat fordert keine Anstrengung, verlängert oder schafft Abhängigkeit, fördert keine Charakterbildung. Im Gegenteil, der Staat wird mächtiger (totalitärer) je mehr Abhängige es gibt.
  3. einer zentralen Planung fehlen die Informationen und Fähigkeiten um effektiv zu helfen (manchmal materielle, finanzielle, manchmal aber auch nur immaterieller Hilfe nötig), mit Gießkannen-Prinzip geht viel Hilfe daneben und verloren
  4. staatliche Sozialhilfe wird zu einer Subvention von Armut und Bedürftigkeit. Die Nachfrage steigt, da man auch ohne Not Subventionen erhält. Tendenz länger in der Abhängigkeit zu verbleiben. Armutsfalle für ganze Generationen.
  5. Kulturelle Konsequenzen: die Befähigung/Bereitschaft freiwillig Helfender wird reduziert (erzwungene Solidarität verschafft keine Befriedigung), Empathie wird geschwächt, Empfänger entwickeln andauernde Abhängigkeit, bspw. Arbeitslosigkeit schwächt das Selbstwertgefühl, Isolation und Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit; empirisch belegt: wenn der Staat hilft, geht private Hilfe zurück (eine Studie belegt bspw. 75% Rückgang privater Spenden bei staatlicher Subvention privater Wohlfahrtsverbände), schlanke Wohlfahrtsstaaten haben größeres Privatspendenaufkommen und höheres Ehrenamt-Engagement, staatliche Umverteilung zerstört die natürlichen, privaten, freiwilligen Hilfen, unterminiert persönliche Verantwortung, das Zusammengehörigkeitsgefühl, Solidarität, atomisiert die Gesellschaft und der Bürger wird entmündigt.

Wäre der freie Markt für Bedürftigenhilfe ausreichend?

  • denkmöglich, aber unwahrscheinlich ist, dass Menschen durch einen freien Markt weniger oder keine Hilfe mehr bekämen
  • denn der Mensch will helfen, braucht aber auch die Ressourcen dazu. Je reicher eine Gesellschaft und kleiner der Wohlfahrtsstaat, desto größer der Anreiz privat zu helfen
  • der Ausnahmefall: eine Person ist vollständig mittellos und niemand will helfen. Das wird im Regelfall ein Schwerverbrecher sein. Hier erfüllt der gesellschaftliche Boykott eine wichtige soziale Funktion. Nur wer weiß, dass er bei schweren Verbrechen keine Hilfe mehr erhält, hat ggf. einen Anreiz sich anständig zu verhalten. In den damaligen Selbsthilfeorganisationen wurden Verbrecher rausgeschmissen
  • vor dem Hintergrund der Geschichte und der Theorie der freien und privaten Bedürftigenhilfe ist festzustellen, das diese ausreichend ist. Der Staat schafft keine neuen Ressourcen, er verteilt diese lediglich schlecht, bürokratisch und mit Eigeninteresse um

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