Alle Menschen sind mitunter Gewalt und Verfolgung ausgesetzt. Manche greifen zur Selbstverteidigung, andere lehnen dies kategorisch ab. Pazifismus, Waffenbesitz und Selbstverteidigung sind unter Christen wie Libertären strittige Themen. Insbesondere in Deutschland (weniger den USA). Gern verweist man dabei auf Bibelstellen wie:
„Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen; sondern wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die andere dar.“
Matthäus 5:39
In diesem Abschnitt geht es jedoch nicht um Selbstverteidigung. Es geht vielmehr um das Verbot von Rache und Selbstjustiz (Römer 12:19) [1]. Christus hielt bspw. nicht die andere Wange hin, als ein Knecht des Hohenpriesters ihn schlug, sondern fragte diesen, mit welchem Recht dieser ihn schlage (Johannes 18:23; siehe auch Paulus vor dem Hohen Rat in Apg23:2.3). Gerne wird auch Römer 13 als Beleg dafür angeführt, dass ausschließlich Staaten das Recht besäßen Sicherheit zu gewährleisten bzw. Waffen zu führen.
Da jedoch Aggression, Gewalt und Blutvergießen grundsätzlich dem Wesen biblischen Christentums widersprechen, liegt die Vermutung nahe, dass biblisch orientierte Christen Pazifisten sein müssen.
Allerdings impliziert Christentum Pazifismus keineswegs; verbietet weder grundsätzlich die Anwendung von Gewalt zur Verteidigung noch deren Vergeltung. Auch die libertäre Philosophie verurteilt nur die Einleitung von Gewalt – die Anwendung von Gewalt gegen eine gewaltlose Person oder ihr Eigentum. Dieses Prinzip wird Nicht-Aggressionsprinzip (NAP) [2] genannt.
Liest man das Neue Testament unter der Fragestellung „Selbstverteidigung“, sehe ich Selbstverteidigung sogar ausdrücklich geboten. Christus nimmt dazu sowohl indirekt wie direkt Stellung.
„Da nun Simon Petrus ein Schwert hatte, zog er es und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm das rechte Ohr ab; der Name des Knechtes aber war Malchus. Da sprach Jesus zu Petrus: Stecke dein Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat?“
Johannes 18:10-11
Christus fordert Petrus lediglich auf, dass dieser sein Schwert in die Scheide zurückstecken soll; er sagte ihm weder, er solle die Waffe loswerden, noch kritisierte er Petrus überhaupt für den Besitz. Es war offensichtlich so normal für Christus, dass seine Jünger zeitweise bewaffnet waren, dass er ihnen dieses ein andermal sogar auftrug (Lukas 22,36-38).
Im nächsten Beispiel stellt Christus das Verhalten eines Hausherrn als vorbildlich und nachahmenswert hin, welcher Verteidigungsmaßnahmen ergriff, um sein Haus zu schützen.
„Das aber erkennt: Wenn der Hausherr wüsste, in welcher Nachtstunde der Dieb käme, so würde er wohl wachen und nicht in sein Haus einbrechen lassen.“
Matthäus 24:43
Der Schutz des eigenen Lebens, Eigentums oder seines Nächsten, gehört für Christus zur Realität des Lebens. Christus ging jedoch noch einen Schritt weiter und befahl seinen Jüngern ausdrücklich den Kauf von Waffen.
Nun sprach er zu ihnen: Aber jetzt, wer einen Beutel hat, der nehme ihn, ebenso auch die Tasche; und wer es nicht hat, der verkaufe sein Gewand und kaufe ein Schwert.
Lukas 22:36
Für das wörtliche Verständnis spricht, dass auch Geldbeutel, Tasche und Mantel in diesem Vers wörtlich zu nehmen sind, also muss auch das Schwert wörtlich genommen werden. Jesu Antwort “Es ist genug” (Lk 22:38) billigt die Schwerter, die die Jünger haben, als ausreichend, und die Zurechtweisung in den Versen 49-51 verbietet lediglich, seine Verhaftung und sein Leiden zu verhindern (vgl. Joh 18:11).
„Wenn aber jemand für die Seinen, besonders für seine Hausgenossen, nicht sorgt, so hat er den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger.“
1. Timotheus 5,8
Paulus nimmt hier die Familie als Beispiel für die Gemeinde und kommt zu dem Schluss, dass mangelnde Versorgung oder Schutz einer Verleugnung des Glaubens gleichkommt. Wenn ein Mann zulässt, dass ihn jemand tötet, dieser nicht für seine Familie sorgen. Und wenn ein Mann seinen Glauben bereits durch mangelnde Versorgung seiner Familie verleugnet, dann erst recht, wenn er daneben steht und zulässt, dass seine Familie vergewaltigt, ermordet oder sein Haus ausgeraubt wird.
Libertarismus als politische Philosophie befasst sich mit dieser Thematik insbesondere aus rechtlicher Sicht bzw. der richtigen Anwendung von Gewalt. Seine Kernprämisse ist, dass es illegal ist, einer Person oder deren Eigentum ohne Erlaubnis Gewalt anzudrohen oder anzutun. Gewalt ist ausschließlich zur Verteidigung oder zur Vergeltung gerechtfertigt.
Das Christentum betont mit der Flucht vor dem Bösen (siehe 1. Sam19:10; Lukas 4.:29-30; Johannes 8:59; 10:39; 2. Kor. 11;32-33) oder der Selbstverteidigung eher den Aspekt der Liebe. Denn oft führt das Versäumnis, einem gewalttätigen Angriff zu widerstehen, zu noch größerem Unrecht. Das Beste für einen Angreifer zu suchen (Matth 5:44; 22:39) bedeutet oft auch, Schritte zu unternehmen, um ihn von weiteren Angriffen abzuhalten.
Weder Christentum noch Libertarismus implizieren also Pazifismus, lehnen weder Waffen noch Selbstverteidigung ab. Die konsequente Befolgung des Nichtangriffsprinzips macht Libertäre oder Christen jedoch zu Kriegspazifisten. Dies schließt wiederum Verteidigung gegen illegitime Angriffe oder Invasionen nicht aus, sehr wohl jedoch den Angriff oder den Einsatz von Massenvernichtungswaffen (nuklear, chemisch oder biologisch), weil diese von Natur aus unmoralisch sind. Es schließt weiterhin die Existenz “gerechter Kriege” aus.
[1] 1. Vers 38: Dies ist ein Zitat aus 2. Mose 21,24. Es geht dabei um Rechtsordnungen. Diese Gesetze sollten Richtern helfen, ein gerechtes Urteil zu fällen (Vers 18+19). Sie wurden jedoch missbraucht, um persönliche Rache zu rechtfertigen. Jesus ging es aber um Versöhnung und Deeskalation anstelle von Rache.
2. Vers 39: Der Schlag mit der rechten Rückhand, galt in vielen Kulturen als Zeichen der Beleidigung oder der Herausforderung zum Kampf. In einer solchen Situation sollen Christen “die andere Wange hinhalten“, d. h. lieber schweigen, freundlich antworten oder auch Verletzungen hinnehmen. Hier geht es also nicht um gesetzwidrige Gewalt. Körperliche Angriffe braucht niemand zu erdulden. Deshalb ließ Jesus es nicht zu, dass die Einwohner von Nazareth ihn einen Berg hinunterstießen (Lukas 4,28).
[2] Das Nicht-Aggressionsprinzip (NAP), auch Nicht-Aggressionsprinzip, Nicht-Zwangsprinzip, Nicht-Einleitung von Kraft und Null-Aggressionsprinzip genannt, ist ein Konzept, bei dem “Aggression“, definiert als Einleitung oder Bedrohung von gewaltsamen Eingriffen in ein Individuum oder deren Eigenschaft, von Natur aus falsch ist. Im Gegensatz zum Pazifismus verbietet der NAP keine Verteidigung. Es gibt keine einzige oder universelle Interpretation oder Definition des NAP, da er mit mehreren definitionalen Fragen konfrontiert ist, einschließlich jener, die sich um geistiges Eigentum, Gewalt, Abtreibung und andere Themen drehen.