Die reformierte theologische Tradition hält an einer historischen Auslegung von Römer 13 fest, die in ihren Grundzügen mit dem libertären Anarchismus oder der “staatenlosen Zivilverwaltung” vereinbar ist. Natürlich sind nicht alle libertären Christen Anarchisten oder konfessionell reformierte Protestanten (Calvinisten). Diese wenig bekannte Perspektive auf den Text kann jedoch für alle libertären Christen hilfreich sein. Nach der Erörterung von vier einleitenden Fragen werde ich eine libertäre Sicht ziviler Selbstverwaltung aufzeigen, die mit dieser Auslegung vereinbar ist und dann diese Auslegung in ihren Kernpunkten vorstellen. Weitere relevante Referenzen und zusätzliche Ressourcen finden sie hier.
Vorbemerkungen
Erstens, es geht bei dieser Position nicht um eine libertäre Partei (Libertarian Party) und auch nicht um einen bestimmten politischen Kandidaten. Was ich hier darlegen möchte, ist vielmehr eine politische Philosophie bzw. Sichtweise bürgerlichen Zusammenlebens, die auf einer bestimmten Sichtweise dessen beruht, was Personen sind, was Eigentum ist, was natürliche Rechte sind und insbesondere, was die legitime Anwendung von Zwang betrifft.
Zweitens, was die legitime Anwendung von Zwang betrifft: Die Einleitung oder “initiale Anwendung” von Gewalt (manchmal beschränken wir das Wort „Zwang“ auf diese Bedeutung) gegen andere oder deren Eigentum, zum Beispiel: Mord, Vergewaltigung, Körperverletzung, Diebstahl, Betrug, die glaubhafte Androhung dieser Dinge; nichts davon ist jemals legitim. Die Einleitung von Zwang ist immer unrechtmäßig, und die einzig rechtmäßige Anwendung von Zwang ist die verhältnismäßige Reaktion auf eine vorherige Einleitung von Zwang. Die Anwendung von Zwang ist nur als Reaktion legitim. Dieser Grundsatz oder diese Norm der „Nichtanwendung von Zwang“ ist eine universelle, von Gott gegebene Norm, die sich im sechsten und achten Gebot wiederfindet: Du sollst nicht morden, du sollst nicht stehlen, sowie der biblischen Bekräftigung des Gesetzes angemessener Vergeltung (lex talionis). Interessanterweise hat auch Sprüche 3:30 einige Implikationen für dieses Thema. „Fange mit keinem Menschen ohne Ursache Streit an, wenn er dir nichts Böses zugefügt hat.“ Dieses Sprichwort besitzt eine juristische Nuance, die bedeutet, dass du das Gesetz (auch als Gewalt oder Zwang verstanden) nicht gegen jemanden anwenden sollst, der dich nicht angegriffen hat.
Drittens, wir müssen unterscheiden zwischen dem, was manchmal als „Laster“ bezeichnet wird (oder Dinge, die unklug oder sündhaft sind), und dem, was „Verbrechen“ sind. Der Bereich der Moral, in dem die Nächstenliebe im Mittelpunkt steht, unterscheidet sich von der Gerechtigkeit, bei der es um das geht, was anderen „geschuldet“ wird. In zivilrechtlichen Angelegenheiten ist es immer lieblos, jemandem nicht das zu geben, was ihm zusteht, aber nicht notwendigerweise umgekehrt. Zum Beispiel sind Lügen und Begehren sündhaft, Verstöße gegen die Norm der Liebe und der Moral, aber sie sind nicht notwendigerweise kriminelle Vergehen. Sie sind keine Nötigungen gegen andere oder deren Eigentum. Diese Unterscheidung zwischen Laster und Verbrechen hilft uns zu verstehen, was eine Angelegenheit der zivilen Selbstverwaltung und der legitimen Anwendung von Zwang ist und was nicht.
Viertens, wir müssen ebenfalls unterscheiden zwischen dem, was wir in Bezug auf Gott besitzen und schulden und dem, was wir in Bezug auf andere Menschen besitzen und schulden. Man könnte hier von der “Vertikalen” (gegenüber Gott) und der “Horizontalen” (gegenüber unseren Mitmenschen) sprechen. Die Norm der Nichtausübung von Zwang hat mit der Horizontalen zu tun, mit dem, was wir anderen Menschen gegenüber besitzen und schulden. Natürlich gehört Gott alles und wir schulden Gott alles. Aber in Bezug auf den Nächsten gibt es Dinge, die einem gehören, nämlich die Dinge, die Gott uns als Haushalter gegeben hat, wie das eigene Leben und das eigene Eigentum. Und wenn ein Nachbar Zwang ausüben und diese Dinge wegnehmen würde, dann wäre das Mord und Diebstahl.
Staatenlose zivile Selbstverwaltung
Die elementare Unterscheidung, um die es hier geht (und die den Kern dessen trifft, worum es bei der staatenlosen Zivilverwaltung geht), ist die zwischen dem “Staat” als einer bestimmten Form der politisch-rechtlichen Ordnung und der zivilen Selbstverwaltung als solcher. Zivile Selbstverwaltung ist im Grunde die Regulierung ziviler Streitigkeiten, welche Personen oder deren Eigentum betreffen. Dies hat etwas mit Rechten zu tun. Rechte sind einklagbare normative Ansprüche in Bezug auf Ihre Person oder Ihr Eigentum. Zivile Selbstverwaltung hat also im Wesentlichen mit der Gerichtsbarkeit über Streitigkeiten, die diese Rechtsgüter betreffen, sowie mit den Regeln und der Durchsetzung, die mit dieser Gerichtsbarkeit einhergehen zu tun
Ein Staat ist jedoch ein territoriales Zwangsmonopol. Das Monopol eines Staates ist der Anspruch auf ein bestimmtes ausschließliches Vorrecht oder eine gewaltsame Kontrolle über ein Gebiet, das er nicht tatsächlich besitzt. Ein solches Monopol beinhaltet die Ausübung von Zwang gegen Menschen und deren Eigentum und daher ist der Staat von Natur aus ungerecht. Außerdem sind Staaten aufgrund ihres Zwangsmonopols grundsätzlich (und in der Praxis tendenziell immer stärker werdend) totalitär. Ein Zwangsmonopol bedeutet, dass der Staat im Prinzip nicht limitiert ist. Im Gegensatz dazu führt die staatenlose zivile Selbstverwaltung die Idee der begrenzten Autorität zu ihrer konsequenten Schlussfolgerung, d. h. zur Abwesenheit eines Monopols.
1. Einige Hintergründe
Die nachstehend beschriebene traditionelle reformierte Sichtweise von Römer 13 (die man als die Sicht des „politischen Widerstands“ bezeichnen könnte) ist in Samuel Rutherfords Lex Rex (1644) deutlich vertreten. Auch Charles Hodge in seinem Römerkommentar (1835) vertritt – wenn auch nicht konsequent – diese Ansicht in mindestens zwei Aussagen. Hodge sagt: “Paulus spricht in diesem Abschnitt von der legitimen Bestimmung der Autorität, nicht vom Machtmissbrauch boshafter Menschen.” Mit anderen Worten: Paulus spricht nicht davon, dass wir uns Tyrannen oder ungerechten Gesetzen unterwerfen müssen. Paulus spricht nicht von den de facto Herrschenden, denjenigen, die in Wirklichkeit nur Macht beanspruchen. Er spricht nicht von Gott in der „Vorsehung“ bestimmten Ordination oder Einsetzung einer Obrigkeit, sondern vielmehr von der ordnungsgemäßen bzw. legitimen Ausgestaltung ziviler Selbstverwaltung.
Hodge kommentiert auch: “Kein Gebot, etwas moralisch Falsches zu tun, kann verbindlich sein, auch keines, welches die rechtmäßige Autorität der Autorität, von der es ausgeht, überschreitet.” Mit anderen Worten: Wir müssen nicht nur einer Aufforderung zur Sünde nicht gehorchen, wenn sie von irgendeiner angemaßten Autorität ausgesprochen wird, sondern wir müssen auch nichts befolgen, was von einer angemaßten zivilen Autorität kommt, das über die Forderung hinausgeht, gerecht zu handeln und sich der Gerechtigkeit zu unterwerfen, weil das die Grenze ihrer von Gott verordneten Autorität ist.
Diese Ansicht spiegelt sich auch im Westminster-Bekenntnis (1646) wider, in dem davon die Rede ist, dass die verschiedenen Obrigkeiten in ihrem Geltungsbereich begrenzt sind und sich auf “rechtmäßige Anordnungen” beschränken. Alle reformatorischen Bekenntnisse haben ähnliche Formulierungen.
2. Der Text selbst
Welche Begriffe die Übersetzungen in Vers 1 auch verwenden, die „herrschenden Mächte“ die „bestehenden“ oder „regierenden Obrigkeiten”, denen wir uns unterordnen oder unterwerfen sollen, damit sind nicht die De-facto-Mächte gemeint, die für sich Autorität beanspruchen. Vielmehr ist hier gemeint, dass nur diejenigen, die Gott autorisiert, ordiniert oder einsetzt (welches Wort auch immer verwendet wird), tatsächlich legitime Autoritäten sind. Das ist die eigentliche Aussage.
In der Heiligen Schrift steht das Wort “ordinieren” manchmal auch für Gottes Vorsehung, d. h. alles, was sich in der Geschichte ereignet, was tatsächlich durch Gottes Willen geschieht. Aber dasselbe Wort „ordiniert“ wird auch für seine „geistliche Bevollmächtigung“, Vorschrift oder Gebot verwendet. Wie können wir also entscheiden, wie es hier verwendet wird? Der unmittelbare Kontext der Passage zeigt uns, dass es um Gottes Autorisation geht, denn der Text führt in den Versen 3 und 4 weiter aus, dass Gott nur den Gebrauch des Schwertes (Zwang) autorisiert oder ordiniert, um tatsächliche zivile Gerechtigkeit zu üben. In einer Übersetzung heißt es also: “nicht ein Schrecken für gutes Verhalten, sondern für schlechtes… das Gute gutheißend… Gottes Diener oder Diener für euer Wohl, ein schwerttragender Rächer, der Gottes Zorn an den Übeltätern ausführt”. Mit anderen Worten: Gott ordnet die Bestrafung von Rechtsverletzungen und die Belobigung der Ziviljustiz an.
Um auf einen möglichen Einwand zu antworten: Wenn es in den Versen 6 und 7 heißt: “Darum müsst ihr auch Abgaben (oder Steuern) zahlen, denn sie sind Gottes Diener, die sich fortwährend darum kümmern” (d.h. um die Verwaltung der Gerechtigkeit), “gebt also allen ihre Abgaben. Steuern, wem Steuern gebühren…” und so weiter, Sie werden feststellen, dass dieser Abschnitt nicht sagt, und keine Schriftstelle sagt tatsächlich jemals, dass jemand tatsächlich eine Steuer schuldet. Vielmehr heißt es, wenn du etwas schuldest, dann bezahle, was du schuldest. Wenn wir zum Beispiel eine mautpflichtige Straße benutzen, dann schulden wir die Maut.
3. Der erweiterte Kontext
Diese von Samuel Rutherford und anderen Theologen vertretene Grundüberlegung wird im Kontext des gesamten Briefes deutlich und macht Sinn:
Die vorangegangenen Ermahnungen (in den vorangehenden Kapiteln des Römerbriefs), sich nicht der Welt anzupassen, das Gute zu erkennen und daran festzuhalten, Böses zu meiden, keine Selbstjustiz zu üben, in Frieden zu leben – könnten leicht zu dem Schluss führen oder die Vorstellung wecken, dass jemand denken könnte: „Hey, die Regierung steht im Widerspruch zu diesen Dingen; sie steht im Widerspruch zu Gottes geoffenbartem moralischen Willen, sie entspricht der sündigen Welt, sie tut, was böse ist, sie ist rachsüchtig, sie unterstützt nicht den Frieden, usw. usw… und deshalb sollten wir uns jeder Regierung widersetzen.”
Außerdem kannte Paulus das Alte Testament und die Lehre von Jesus. In Hosea 8,4 heißt es: „Sie haben Könige eingesetzt ohne meinen Willen, Fürsten, ohne dass ich es billigte;“. Das heißt, nicht alle so genannten Herrscher entsprachen der göttlichen Ordination. Und in Markus 10,42 bezieht sich Jesus auf diejenigen, die als Herrscher der Heiden „gelten“. Der Begriff „gelten“ ist bedeutsam, denn es bedeutet „vermeintliche, aber nicht tatsächliche“ Autorität. Auch Paulus lebte in der realen Welt und erkannte mit absoluter Gewissheit, dass einige, die sich in Machtpositionen befinden und einige Erscheinungsformen der Autorität, offensichtlich böse und unrechtmäßig sind.
Im Licht all dessen, stellt Paulus in Römer 13 klar, dass Gott trotz des Übels des Kaiserreiches und des Staates, gleichwohl eine legitime Rolle für zivile Selbstverwaltung (die Ausübung einer zivilen Rechtsordnung) vorgesehen hat, und dass unsere Unterordnung unter diese Art ziviler Selbstverwaltung, die Gott vorschreibt bzw. anordnet, auch in Übereinstimmung mit seinem moralischen Willen ist.
Weitere biblische Belege
Es gibt weitere Stellen, die dieses Verständnis von Römer 13 verdeutlichen, z. B. 1. Korinther 6. Wir sehen, dass Paulus in Römer 13 nicht das Römische Reich gemeint haben kann, wenn er zu der Gemeinde in Korinth sagt: „Wie kann jemand von euch, der eine Beschwerde gegen einen anderen hat, sich bei den Ungerechten richten lassen anstatt bei den Heiligen? Wisst ihr nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden? Wenn nun durch euch die Welt gerichtet werden soll, seid ihr dann unwürdig, über die allergeringsten Dinge zu entscheiden? Wisst ihr nicht, dass wir Engel richten werden? Wie viel mehr die Angelegenheiten dieses Lebens? Wenn ihr nun über Angelegenheiten dieses Lebens Entscheidungen zu treffen habt, so setzt ihr solche zu Richtern ein, die bei der Gemeinde nichts gelten!“
Das Römische Reich und seine vermeintlichen Herrscher werden also als ungerecht bezeichnet, d.h. sie sind nicht rechtmäßig und deshalb keine legitimen Autoritäten, denen die Gläubigen ihre zivilen Streitigkeiten vorlegen können. Wenn die so genannten römischen Machthaber, Diener Gottes zu ihrem Wohl waren, die die Zivilgerichtsbarkeit ausübten, dann hätte Paulus den Christen nicht verbieten können, sich an sie zu wenden, um ein Urteil zu fällen.
Und weiter in 1. Korinther 8,5-6 sagt Paulus: „Denn wenn es auch solche gibt, die Götter genannt werden, sei es im Himmel oder auf Erden — wie es ja wirklich viele »Götter« und viele »Herren« gibt —, so gibt es für uns doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir für ihn; und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.“ Dies bedeutet unter anderem, dass viele so genannte „Herren“ oder Herrscher ebenso wenig echte zivile Autorität von Gott haben, wie so genannte „Götter“ echte Gottheit oder Göttlichkeit haben.
Zusammenfassung
Zusammenfassend lehren Römer 13 und andere damit zusammenhängende Abschnitte der Schrift, dass diejenigen, die aufgrund Gottes souveräner Kontrolle der Geschichte, Machtpositionen innehaben können, nicht notwendigerweise diejenigen sind, die Gottes moralische Autorisierung oder Ordination besitzen. Gottes Wort verlangt nicht, dass wir uns ungerechten sogenannten Machthabern unterwerfen. Die schwerttragende Macht, die nach Römer 13 von Gott eingesetzt ist, ist die Selbstverwaltung einer zivilen Justiz: die Bestrafung von Verbrechern und die Verteidigung der Opfer von Verbrechen. Außerdem wird festgestellt, dass der “Staat” als Monopol, welches die Anwendung von Zwang gegen Personen und deren Eigentum beinhaltet, von Natur aus ungerecht ist und daher nicht von Gott autorisiert oder verordnet wurde.
Veröffentlicht im Original durch Gregory Baus
In deutscher Sprache veröffentlich mit
freundlicher Genehmigung von Gregory Baus
